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2008 verabschiedete der amerikanische Kongress das Ergänzungsgesetz zum Foreign Intelligence Surveillance Act (FISA; deutsch etwa: Gesetz zum Abhören in der Auslandsaufklärung; das FISA regelt vor allem die Telefonüberwachung und akustische Wohnraumüberwachung). Dieses Ergänzungsgesetz FAA (FISA Amendments Act) hebelt den durch den Ersten, Vierten und Fünften Verfassungszusatz garantierten Datenschutz und den Schutz der Privatsphäre aus, sichert dafür
aber den großen Telekommunikationsunternehmen Immunität zu, wenn sie die National Security Agency (NSA, Nationale Sicherheitsbehörde) bei deren unbefugten Abhörprogrammen unterstützen. Damals wurde uns versichert, die Regierung werde niemals unsere Gespräche »abhören«.
Aber nur knapp ein Jahr nach der Unterzeichnung des Ergänzungsgesetzes FAA durch Präsident Bush berichtete dieNew York Times, unter Präsident Barack Obama, der unter dem Motto »Veränderung und Hoffnung« angetreten war, diese Ideale aber bald verraten hatte, habe die NSA ihre illegale Praxis, »private E-Mails und Telefongespräche amerikanischer Bürger abzuhören, in den vergangenen Monaten in einem Maße ausgeweitet, der den ohnehin weitgefassten legalen Rahmen, den der Kongress im vergangenen Jahr setzte, überschritt«.
Das umfassende »Absaugen« privater Kommunikationsdaten seitens der ausufernden Pentagon-Bürokratie wurde von einem »hochrangigen Mitarbeiter«, der es allerdings vorzog, anonym zu bleiben, als »›Übersammlung‹ der inländischen Kommunikation amerikanischer Bürger«, d. h. sozusagen als »Betriebsunfall« eines ansonsten ausgewogenen Programms, bezeichnet.
Aber den meisten Amerikanern ist nicht bewusst, dass sie in ihren Taschen ein Gerät mit sich herumtragen, das schon als das nahezu perfekte Spionagewerkzeug bezeichnet wurde: ihr Handy.
In der vergangenen Woche enthüllte die New York Times, nach Berichten der Handynetzbetreiber beantworteten diese »im letzten Jahr die alarmierende Zahl von 1,3 Millionen Anfragen nach Nutzerdaten durch die Strafverfolgungsbehörden, die im Zusammenhang mit Ermittlungen Informationen über Textmitteilungen, den Aufenthaltsort der Kunden und andere Informationen anforderten«.
Die Berichte der Handynetzbetreiber und Telekommunikationsunternehmen über diese Weitergabe vertraulicher Informationen wurden auf Anfrage im Rahmen von Kongressanhörungen erstellt. »Sie dokumentieren, dass die Handyüberwachung in den vergangenen fünf Jahren explosionsartig angestiegen ist, wobei die Unternehmen auf Anfrage der Polizei, aufgrund von »polizeilichen
Notfällen« (»Gefahr im Verzug«), gerichtlichen Verfügungen, strafbewehrten Anordnungen der Strafverfolgungsbehörden und anderen Forderungen in einigen Tausend Fällen pro Tag vertrauliche Daten weitergaben«, heißt es in dem Artikel weiter.
»Ich hätte niemals damit gerechnet, dass die Abfrage von Nutzerdaten so massiv ausfällt«, erklärte der demokratische Kongressabgeordnete Edward J. Markey aus Massachusetts, gleichberechtigter Vorsitzender des überparteilichen Datenschutzgremiums des Kongresses, das »Berichte von neun Telekommunikationsunternehmen, darunter AT&T, Sprint, T-Mobile und Verizon anforderte.«
Markey sagte gegenüber der Times, die Tatsache, dass das Abhören von Handys durch die Strafverfolgungsbehörden so überhandnehme, nähre den Verdacht, dass es hier um eine Art »Rasterfahndung« und Lauschangriff gehe, die den Datenschutz und die Privatsphäre der meisten Nutzer bedrohe.
Auch wenn der gigantische Umfang der Forderung nach Nutzerdaten durch die Polizei auf lokaler oder Bundesebene den Kongress, der sich sonst eher blind und taub stellt, wenn es um die Abschöpfung von Nutzerdaten auf allen Ebenen der Regierung geht, aufschreckte, dürften die bisherigen Zahlen nur einen Ausschnitt des wahres Ausmaßes und des Wesens dieses allgemeinen Problems abbilden.
2009 berichtete der Sicherheitsfachmann Christopher Soghoian auf seiner Internetseite Slight Paranoia, allein ein einzelnes Unternehmen, Sprint Nextel, »stellte den Strafverfolgungsbehörden die GPS-Ortungsdaten seiner Nutzer zwischen September 2008 und Oktober 2009 in über acht Millionen Fällen zur Verfügung. Diese massive Weitergabe sensitiver Nutzerdaten war nur möglich, weil Sprint ein neues besonderes Internetportal für die Mitarbeiter der Strafverfolgungsbehörden einführte.« (Hervorhebungen durch T. B.)
Weiter schreibt Soghoian, die Internetprovider und Telekommunikationsunternehmen spielen eine wichtige, aber weitgehend unbeachtete Rolle bei der Strafverfolgung und Informationsbeschaffung … Regierungsbeamte verschaffen sich routinemäßig Nutzerdaten von diesen Unternehmen, die Auskunft über die gewählten Telefonnummern, den Inhalt von Textnachrichten, E-Mails und Kurznachrichten (SMS), über die Internetseiten, auf die zugegriffen wurde, und die Anfragen bei Suchmaschinen geben. Ebenso gehören umfangreiche Ortungsdaten dazu, die aufzeigen, wo sich eine Person zu einer bestimmten Zeit aufgehalten hat.«
Natürlich gibt es auch tatsächliche »dringende Umstände «, etwa »Gefahr im Verzug«, die den sofortigen Zugriff von Strafverfolgungsbehörden auf GPS-Daten oder anderen Nutzerdaten rechtfertigen – wie etwa eine Kindesentführung –, aber es drängt sich der Eindruck auf, dass die meisten dieser ohne richterliche Anordnung erfolgenden Forderungen unter eine andere, bösartige Kategorie fallen: Lauschangriff und Rasterfahndung.
In einem Kommentar zu den Enthüllungen des Kongresses erklärte der Rechtsberater der Bürgerrechtsunion ACLU, Christopher Calabrese, die »von der Times vorgelegten Zahlen stellten die Zahl der Amerikaner, die von dieser Informationsweitergabe betroffen sind, viel zu gering dar. Sprint gab bekannt, dass es etwa 500.000 sogenannte »Subpoenas« erhalten habe. (Ein Subpoena ist eine schriftliche, strafbewehrte Aufforderung zur Freigabe von Informationen durch eine
Strafverfolgungsbehörde, die nicht durch einen Richter bestätigt wurde.) ›Eine solche einzelne Anordnung betrifft in der Regel die Weitergabe von Nutzerdaten viele Nutzer.‹ Einige Telefonunternehmen räumten ein, sie leiteten manchmal alle Informationen einer bestimmten Mobilfunkmastes oder eines bestimmten Gebietes weiter.«
Verschiedene Gesetzentwürfe zum Datenschutz bei Ortungsdaten, die eine richterliche Anordnung erforderlich machen, um Dateninformationen erhalten zu können, werden noch im Kongress beraten. Allerdings ist offenkundig, dass man in den herrschenden Elitekreisen keineswegs an einem Strang zieht, wenn es darum geht, den Datenschutz und die Privatsphäre der amerikanischen Bürger vor den immer stärker an Einfluss gewinnenden und immer aufdringlicheren politischen Behörden zu schützen – das Gegenteil ist der Fall.
Unter Obama wurden die illegalen Überwachungsprogramme, die sich früher als verdeckte Operationen hinter Decknamen wie Stellar Wind (»Sternenwind«) oderPinwale verbargen, immer mehr ausgeweitet. Tatsächlich herrscht heute ein überparteilicher Konsens vor, der die «geheime Nebenregierung« ermutigt und ihr gestattet, ohne richterlichen Beschluss abzuhören und massenweise personenbezogene Daten zu sammeln. Dieses Vorgehen ist inzwischen so »normal« (weil es angeblich unserer Sicherheit dient), dass es nicht einmal mehr umstritten ist.
Vor mehr als drei Jahren versprach Obama, mit der illegalen Politik seiner Vorgängerregierung zu brechen. Aber ein »hochrangiger Regierungsvertreter« erklärte unter dem Schutz der Anonymität gegenüber der Times, es seien bestimmte »technische Probleme« aufgetreten, die dazu geführt hätten, dass die NSA »unabsichtlich bestimmte Gruppen der amerikanischen Bevölkerung ›ins Visier genommen‹ und deren Kommunikationen im Inland ohne entsprechenden richterlichen Beschluss gesammelt habe. Mitarbeiter versuchten immer noch zu ermitteln, zu wie vielen Rechtsverstößen es möglicherweise gekommen sei«.
Weiter stellte sich heraus, dass zu den Gruppierungen, die »unabsichtlich« ins Visier der NSA und anderer Nachrichtendienste oder Bundesbehörden wie CIA, Heimatschutzministerium, FBI u. a. geraten waren, Amerikaner moslemischen Glaubens, anarchistische und sozialistische Gruppen, Libertarier, Bürgerrechtsorganisationen, Kriegsgegner sowie einzelne Unterstützer der Internet-Enthüllungsplattform WikiLeaks gehörten.
In der vergangenen Woche gab das Unterstützernetzwerk für Bradley Manning bekannt, mitSchreiben vom 18. Mai 2012, das angeblich von der Ermittlungsbehörde der amerikanischen Armee (US Army Criminal Investigation Division) stammt, wurde eine Forderung auf der Grundlage des Informationsfreiheitsgesetzes (Freedom of Information Act, FOIA) zur Offenlegung der Informationen, die die Regierung über das Unterstützernetzwerk gesammelt hatte, abgelehnt. Zur Begründung heißt es, es sei eine Ermittlung im Gange, deren Ende nicht abzusehen sei. Die Leser werden sich bestimmt erinnern, dass es sich bei Bradley Manning um den amerikanischen Soldaten handelt, dem von der Regierung vorgeworfen wird, einige Hunderttausend geheime Dokumente an WikiLeaksweitergegeben zu haben. Im Falle eines Schuldspruchs drohen ihm einige Jahrzehnte Haft.
»Derzeit ist unklar«, schreibt das Netzwerk weiter, »ob sich die Ermittlungen, auf die in der FOIA-Ablehnung Bezug genommen wird, auf das laufende Verfahren gegen Bradley Manning beziehen, oder ob es tatsächlich ein weiteres Ermittlungsverfahren gegen das Unterstützernetzwerk
gibt.« Angesichts des massiven Vorgehens der Regierung gegen diejenigen, die Missstände aufdecken und Skandale ans Licht bringen – die sogenannten »Whistleblower« –, muss man leider davon ausgehen, dass die Armee und das Justizministerium das Unterstützernetz für Bradley Manning – ebenso wie »WikiLeaks« – ins Visier genommen haben.
Und jetzt, wo das neue gigantische Utah Data Centre der NSA mit seinen Baukosten von zwei Milliarden Dollar praktisch vor der Fertigstellung steht, wie James Bamford in seinem Wired Magazine im März berichtete, werden die Möglichkeiten des Geheimdienstes, »weite Teile der weltweiten Kommunikation, die sie von Satelliten oder aus den unterirdisch und quer durch die Ozeane verlaufenden Kabeln der internationalen, ausländischen und inländischen Netzwerke abfangen, zu entschlüsseln, zu analysieren und zu speichern«, qualitativ auf eine neue Stufe gehoben – alles bezahlt aus Steuermitteln.
Derzeit wird über eine Verlängerung des Ergänzungsgesetzes FAA debattiert, und da die Gauner im Kongress aus beiden Lagern sich, wie von der Regierung gefordert, für eine auf fünf Jahre befristete unveränderte Verlängerung einsetzen, weigert sich die geheime Nebenregierung, den Datenschützern, sowohl in wie auch außerhalb der Regierung, keinerlei Informationen darüber offenzulegen, wie viele Rechtsverstöße routinemäßig unter den, wie offen eingeräumt wird, laschen Vorgaben des Gesetzes stattgefunden haben.
Im Mai forderten die demokratischen Senatoren Ron Wyden aus Oregon und Mark Udall aus Colorado, die beide dem Senatsgeheimdienstausschuss angehören, die NSA auf, Informationen darüber offenzulegen, wie viele Amerikaner von den Abhörmaßnahmen der NSA betroffen seien. Das Büro des Direktors Nationale Nachrichtendienste (DNI) antwortete auf die Anfrage, es sei »schlichtweg nicht möglich, die Zahl der in den USA lebenden Personen zu ermitteln, deren Kommunikationen möglicherweise im Rahmen des FAA überprüft wurden«.
Beide Senatoren lehnen die Verlängerung des FAA aus bürgerrechtlichen Gründen ab, und angesichts des Mauerns der Regierung blockierte Wyden zunächst das Gesetzgebungsverfahren. In einer Erklärung, die auch auf seiner Internetseite veröffentlicht wurde, legte Wyden die Gründe dafür dar, warum er die Forderung nach Verlängerung des FAA um fünf Jahre im Rahmen einer abstimmungslosen, einhelligen Zustimmungserklärung ablehnte (Bei diesem Verfahren gilt ein Gesetz ohne Abstimmung als angenommen, wenn keiner der Anwesenden auf Nachfrage des Vorsitzenden Einwände äußert):
»Mit dem [FAA-] Gesetz von 2008 sollten der Regierung neue Befugnisse übergeben werden, die Kommunikation von Menschen zu speichern, von denen man annahm, dass es sich um Ausländer handelt, die nicht in den USA leben. Der Datenschutz und der Schutz der Privatsphäre der Menschen in den USA sollten gewahrt bleiben …
Vor einer Abstimmung im Kongress über die Verlängerung dieser Befugnisse muss man sich klar darüber sein, wie sie in der Praxis gehandhabt werden. Der Kongress muss vor allem größere Kenntnis davon haben, bei wie vielen der in den USA lebenden Menschen deren Kommunikation im Rahmen der Befugnisse des FAA gespeichert und überprüft wurden.
Wenn keine Stelle nicht einmal abschätzen kann, in wie viel Fällen die Kommunikation von Amerikanern im Rahmen des FAA gesammelt und gespeichert wurde, befürchte ich wohl zu Recht, dass die Zahl sehr hoch ausfallen könnte. Da alle diese Kommunikationsdaten von der Regierung auf der Grundlage von Abschnitt 702 ohne richterlichen Beschluss gesammelt wurden, bin ich der Ansicht, dass in solchen Fällen strikte Regeln herrschen sollten, die es der Regierung verbieten, diese Kommunikationsdaten zu durchforsten, um Telefonanrufe oder E-Mails eines bestimmten Amerikaners aufzustöbern, wenn kein richterlicher Beschluss vorliegt, der aus Gründen einer Notfallsituation die Überwachung dieses Amerikaners erlaubt.«
In seiner Antwort auf die Anfrage des Senators argumentierte I. Charles McCullogh, seines Zeichens Generalinspekteur des Büros des DNI aberwitzig, der NSA-Generalinspekteur und »die Führung der NSA stimmen darin überein, dass die Beantwortung einer solchen Anfrage ihrerseits den Datenschutz der betreffenden amerikanischen Bürgerinnen und Bürger verletzte.« (Hervorhebungen von T. B.)
McCulloghs Verschleierungsversuch steckt voller unfreiwilliger Ironie und wurde auf der Internetseite Wired veröffentlicht. Er argumentierte beispielsweise, selbst nur eine Schätzung der Zahl der ausspionierten Amerikaner würde »die Kapazitäten« der internen Kontrollgremien der NSA »übersteigen. Ich verweise auf die Schlussfolgerung [des NSA-Generalinspekteurs], die Erarbeitung einer solchen Einschätzung übersteige die Möglichkeiten seiner Abteilung und würde so viele zusätzliche Arbeitskraft und -zeit binden, dass möglicherweise der eigentliche Arbeitsauftrag der NSA beeinträchtigt werde.«
Ähnlich wie ihre Vorgängerregierung unter Präsident Bush, Zivilklagen zur Durchsetzung von Gesetzen (sogenannte »Citizen Lawsuits«), in denen gefordert wurde, die Telekommunikationsdienstleister für ihre Zusammenarbeit mit den illegalen NSA-Programmen zur Verantwortung zu ziehen, im Keim erstickte, versuchte auch die Regierung Obama, sich ihrer Verantwortung zu entziehen, indem sie sich auf ein angebliches »Staatsgeheimnis« berief.
Die Organisation Electronic Frontier Foundation (EFF), die sich für Freiheit in der vernetzten Welt einsetzt, berichtet vor Kurzem: »Drei ›Whistleblower‹ – alle frühere Mitarbeiter der National Security Agency (NSA) – legten in einem Klageverfahren der EFF gegen das illegale Überwachungsprogramm der Regierung – Jewel vs. NSA – entsprechende Beweise vor.«