http://www.welt.de/politik/article2759571/Noch-nie-gab-es-so-viele-Sklaven-wie-heute.html
In Haiti kostet ein Mädchen 50 Dollar, in Indien leben Schuldknechte in dritter Generation. Der amerikanische Journalist E. Benjamin Skinner recherchierte fünf Jahre lang im weltweiten Sklavenmarkt. WELT ONLINE sprach mit ihm über menschenverachtende Sklavenhändler und generationenübergreifende Grausamkeiten. Von Elisalex Clary
WELT ONLINE: Der portugiesische Fußballspieler Cristiano Ronaldo hat diesen Sommer gesagt: "Ich bin ein moderner Sklave." Sehen Sie das auch so?
E. Benjamin Skinner: Wie viel verdient der Mann bei Manchester United? So 25.000 Dollar die Woche, nicht?
WELT ONLINE: Angeblich ist es fast das Achtfache.
Skinner: Ich bin dafür, dass jeder das Recht hat, auch dumme Sachen zu sagen. Aber der lockere Umgang mit dem Begriff verharmlost das Leid von Millionen Menschen. Ich spreche nicht nur von unterbezahlten, ausgebeuteten Arbeitskräften. Ich spreche von Sklaven.
WELT ONLINE: Und Sie meinen…?
Skinner: …Menschen, die durch Täuschung und Androhung von Gewalt zur Arbeit gezwungen werden und nur das erhalten, was sie zum Überleben benötigen.
WELT ONLINE: Wie viele Menschen werden nicht bloß metaphorisch versklavt?
Skinner: Glaubwürdige Schätzungen beginnen bei zwölf Millionen, diese Zahl stammt aus einem Zwangsarbeitsbericht der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO). Andere renommierte Experten gehen von bis zu 27 Millionen aus. Aber eines steht fest: Es hat noch nie so viele Sklaven in der Geschichte gegeben.
WELT ONLINE: Das sind die absoluten Zahlen…
Skinner: Ja, man muss auch sagen: Der Anteil der Sklaven an der Weltbevölkerung ist geringer denn je. Aber generell sollte man vorsichtig mit den Zahlen sein. Die Regierung in Delhi etwa schätzt die Zahl der Sklaven in Indien offiziell auf 200.000, dabei spricht allein der Bundesstaat Tamil Nadu von zwei Millionen. Die glaubwürdigsten Statistiken für Indien beginnen bei zehn Millionen.
WELT ONLINE: Zu welcher Arbeit werden diese Menschen gezwungen?
Skinner: Ganz unterschiedlich. Oft ist es Hausarbeit oder Sex wie bei den Kindersklaven in Haiti oder den versklavten Minderheiten im Sudan. Ganz besonders groß ist das Problem in Indien. Dort geht es um Menschen in erblicher Schuldknechtschaft – wie Gonoo, den ich in einem Steinbruch traf. Er und seine Familie zerschlagen dort 14 Stunden am Tag Steine zu Kies und Sand. Sein Großvater hat einen Kredit von 62 US-Cent aufgenommen, um die Mitgift seiner Mutter zu bezahlen. Drei Generationen und drei Besitzer später lebt die Familie immer noch in Sklaverei. Die Schuldknechtschaft ist seit 1976 zwar illegal in Indien, aber ich war schockiert, wie präsent sie noch ist. In Uttar Pradesh oder Bihar gibt es ganze Dörfer, die nur aus Sklaven bestehen.
WELT ONLINE: Seit Ende des Ersten Weltkriegs wurden zahlreiche Verträge und Resolutionen zur Abschaffung der Sklaverei unterzeichnet, darunter 1948 die Erklärung der Menschenrechte. Vor 27 Jahren hat Mauretanien als letzter Staat der Welt die Sklaverei verboten. Waren all die Dokumente bloß Papierverschwendung?
Skinner: Nein. Gesetze sind wichtig. Sie beschreiben die Pflicht der Regierungen. Aber wir können uns nicht darauf verlassen. Zuverlässige Demokratien wie die USA oder Deutschland müssen Druck machen, dass sie auch umgesetzt werden. Unternehmen müssen dafür sorgen, dass es keine Produkte aus Sklavenarbeit in ihrer Lieferkette gibt. Und alle sollten Vertreter der Zivilgesellschaft unterstützen, deren Hilfsprogramme für Sklaven sich bereits bewährt haben.
WELT ONLINE: Zum Beispiel?
Skinner: Organisationen wie "Free The Slaves". Mit Partnern vor Ort versucht diese NGO, Sklaven nicht nur zu befreien, sondern auch zu rehabilitieren. Sie klären die Befreiten über ihre Rechte auf und verschaffen ihnen Zugang zu einer Umschulung oder seriösen Krediten, damit sie sich eine neue Existenz aufbauen können. In Indien sichern sie sich oft die Rechte an den Pachtverträgen (lease) von Schuldknechten. Ein Mensch wie Gonoo bekommt damit die Wahl, ob er den Steinbruch verlässt oder dort weiter arbeitet – mit dem Unterschied, dass er die Früchte seiner Arbeit behalten kann.
WELT ONLINE: Wer war der erste Sklave, den Sie getroffen haben?
Skinner: Er hieß Moctar, ein ehemaliger Sklave aus Mauretanien. Vor 15 Jahren ist er geflohen, erst in den Senegal, dann weiter nach Libyen, wo er Medizin studierte. Ich traf ihn in New York, er leitet mittlerweile eine Anti-Sklaverei-Organisation. Eine beeindruckende Persönlichkeit: Seine Menschlichkeit war ihm entrissen worden, und trotzdem gelang ihm die Flucht, er schaffte es sogar, ein neues Leben aufzubauen und für die Freiheit anderer zu kämpfen. Seine ruhige Entschlossenheit zu kämpfen erinnerte mich an Frederick Douglass…
WELT ONLINE: …den berühmten US-Sklaven und Abolitionisten.
Skinner: Ja. Moctar machte mir klar, wie hart die Sklaverei einen Menschen trifft und was für eine Herausforderung es bedeutet, sich davon zu erholen. Gandhi sagte einmal: "In dem Moment, in dem ein Sklave beschließt, kein Sklave mehr zu sein, springen seine Ketten." Ich glaube: Für Millionen Sklaven ist es nicht ganz so leicht.
WELT ONLINE: Was ist so schwer am Freiwerden.
Skinner: Nehmen Sie Gonoo aus dem indischen Steinbruch. Kurz bevor ich ihm begegnete, hatte sich sein Herr aus dem Staub gemacht, er wurde wegen Mordes gesucht. Ich fragte Gonoo: Warum fliehst du nicht? Und er antwortete: Wohin soll ich gehen? Was soll ich essen? Ich war mein ganzes Leben lang ein Sklave, und so wird es auch bei meinen Kindern sein. Amerikanische Überlebende der Sklaverei haben Anfang des 20.Jahrhunderts Ähnliches erzählt: Als ihnen die Yankees sagten "Ihr seid alle frei!" hatten sie keine Ahnung, was das bedeutet. Sie gehörten zur zweiten oder dritten Plantagengeneration. Ihre Identität war ausradiert worden. Sie hatten keine Vorstellung, wie sie alleine leben sollten. Sie hatten keine Ausbildung, keinen Zugang zu Krediten, kein Bewusstsein für ihre Rechte und für diese nur wenig Schutz.
WELT ONLINE: Wie unterscheiden sich moderne Sklaven von denen der Vergangenheit?
Skinner: Seit Sklaverei überall offiziell verboten ist, ist das Element der Täuschung dazugekommen: Menschenhändler versprechen eine bessere Zukunft in der Stadt oder im westlichen Ausland, Wucherer verlangen astronomische Zinsen für winzige Kredite.
WELT ONLINE: Wie viel kostet ein Sklave?
Skinner: In dieser Hinsicht hat sich viel verändert. Im Jahr 1850 konnte man einen gesunden Mann für umgerechnet 30.000 bis 40.000 Dollar kaufen. Und auch wenn ich das Verbrechen der Sklaverei im 19.Jahrhundert nicht verharmlosen will, würde ich daraus schließen: Damals betrachteten die Halter ihre Sklaven als wertvolle Investition. Heute werden sie wie Wegwerfware behandelt. Im Jahr 2005 hätte ich in Haiti, drei Flugstunden von New York entfernt, ein kleines Mädchen für etwa 50 Dollar kaufen können. Sie wurde mir explizit für häusliche und sexuelle Dienste angeboten.
WELT ONLINE: Und was haben Sie gemacht?
Skinner: Ich habe sie nicht gekauft. Ich hatte den festen Vorsatz, nie für menschliches Leben zu zahlen. Im Südsudan war ich dabei, wie eine Gruppe von evangelikalen Christen, Christian Solidarity International (CSI), im großen Stil angebliche Sklaven freikaufte. Und spätestens seitdem halte ich das für eine sehr fragwürdige Methode.
WELT ONLINE: Warum?
Skinner: Ich bin überzeugt, dass Sklavenfreikäufe den Handel zusätzlich ankurbeln. Im Sudan waren die Umstände besonders problematisch: Die Freikäufe wurden über eine der Kriegsparteien im Sudan abgewickelt, der südsudanesischen Miliz SPLM. Im Laufe von acht Jahren hat CSI angeblich 87.000 Sklaven freigekauft und dafür drei Millionen Dollar Spendengelder gezahlt. Das war 2003 die größte Einnahmequelle für die SPLM, und währenddessen liefen im Land Friedensverhandlungen! Das Geld hätte genutzt werden können, um den Wohlstand der betroffenen Minderheiten für ein Jahrzehnt zu sichern und sie damit gegen die Sklaverei zu immunisieren. Stattdessen wurde damit der Bürgerkrieg finanziert. Das Absurdeste an der Geschichte: Die Befreier aus der Schweiz hatten kaum einen Überblick über die tatsächlichen Sklavenzahlen im Land, ihre Angaben bekamen sie von der SPLM selbst.
WELT ONLINE: Waren Sie nie versucht, jemanden aus der Sklaverei zu kaufen?
Skinner: Doch, natürlich. Ich muss oft an eine junge Frau in einem Bukarester Bordell denken. Jemand hatte versucht, die Zeichen des Downsyndroms in ihrem Gesicht zu überschminken, aber sie weinte so sehr, dass ihr die Wimperntusche in Bächen die Wangen hinunterlief. Am Arm hatte sie Schnittwunden, einige waren gerade erst vernarbt. Sie muss mehrmals versucht haben, sich umzubringen, um den täglichen Vergewaltigungen zu entgehen. Sechs bis zehn Euro kassiert ihr Zuhälter jeweils dafür. Ich hätte sie kaufen können, im Austausch gegen einen Gebrauchtwagen, keine drei Flugstunden von hier entfernt.
WELT ONLINE: Was haben Sie getan?
Skinner: Ich bin zur Polizei gegangen und habe den Fall angezeigt. Aber der Beamte sagte nur: "Das sind die Roma, die haben anderes Blut und andere Gesetze. Wir haben keinen Roma in unseren Menschenhandel-Taskforces, der diese Gruppe infiltrieren könnte." Ich habe es auch über unser Außenministerium versucht, aber es ist nicht genug passiert. Die EU müsste auf Rumänien wieder so viel Druck ausüben wie vor der Aufnahme.
WELT ONLINE: Hatte die EU-Mitgliedschaft überhaupt eine Auswirkung auf das Schicksal dieser Frau?
Skinner: Schwer zu sagen. Ich habe vor ein paar Monaten bei der Polizei nachgefragt, aber nichts gehört. Ihr Schicksal verfolgt mich.
WELT ONLINE: In Haiti haben Sie einmal die beobachtende Rolle des Reporters verlassen.
Skinner: Es war ein besonderer Fall. Anstatt dieses Mädchen für 50 Dollar zu kaufen, beschloss ich, mir anzusehen, wo diese Kinder herkommen und wie sie in die Hände von Menschenhändlern geraten. Ich fuhr in ein sehr abgelegenes Bergdorf namens Brésilienne. Fast alle Familien hatten mindestens eines ihrer Kinder einem Fremden überlassen.
WELT ONLINE: Warum tun Eltern das?
Skinner: Es ist eine teuflische Entscheidung, vor der diese Menschen stehen. Wir im Westen können leicht sagen: Gib mir Freiheit oder gib mir den Tod. Ein hübsches Prinzip, aber es funktioniert nicht mehr ganz, wenn es um dein Kind geht. Um die Frage: Soll ich dabei zusehen, wie es an Hunger oder einer Krankheit stirbt? Oder den Menschenhändlern glauben, die versprechen, für regelmäßige Mahlzeiten und Schulbildung zu sorgen?
WELT ONLINE: Wie haben Sie sich da eingemischt?
Skinner: Eine Mutter sagte mir: Meine Tochter wird seit drei Jahren als Haussklavin in Port-au-Prince gehalten. Ich muss sie da rausholen. Ich begleitete sie in die Stadt, zu der Frau, die ihr Kind mitgenommen hatte und für sich schuften ließ. Als das Mädchen, Camsease, in Sicherheit war, versprach ich ihrer Mutter, für ihre Schulbildung aufzukommen. Es kostet 84 Dollar im Jahr. Das Entscheidende an diesem Fall ist: Es ist gar nicht so teuer, Menschen aus der Sklaverei zu befreien. Und es lohnt sich auch wirtschaftlich.
WELT ONLINE: Inwiefern?
Skinner: Im weltweiten Durchschnitt kostet es etwa 400 Dollar, um Sklaven auf legalem Weg zu befreien und sie hinterher zwei bis vier Jahre zu begleiten. Wenn wir von 27 Millionen Sklaven ausgehen, wären das zehn bis elf Milliarden Dollar, das ist in etwa das, was Amerikaner pro Monat im Irak ausgeben. Und das Geld wäre gut angelegt: Experten schätzen, dass diese befreiten Sklaven, selbst wenn sie nach ihrer Erholung auf einem moderaten Armutsniveau von Tagesverdiensten in Höhe von zwei Dollar bleiben, als Konsumenten 22 bis 23 Milliarden Dollar zur globalen Wirtschaft beitragen würden.
WELT ONLINE: Sie haben auch mit Menschenhändlern und Sklavenhaltern gesprochen. Haben die versucht, sich zu verteidigen?
Skinner: Viele sagen ganz offen, dass es um viel Geld geht, aber manche versuchen es. Der Menschenhändler in Haiti erzählte mir etwa: "Ich hole diese Kinder aus verzweifelter Armut und verschaffe ihnen einen Platz in einer besser gestellten Familie." Aber im selben Atemzug fragte er mich, ob ich das Kind, das er mir für 50 Dollar verkaufen wollte, auch als Partnerin haben wollte. Und er meinte eine sexuelle Partnerschaft. Die humanitären Deckmäntelchen der Menschenhändler verrutschen schnell, wenn es ums Geschäft geht.
WELT ONLINE: Menschenhändler setzen weltweit 32 Milliarden Dollar pro Jahr um. Hatten Sie nie Angst, dass die unangenehm werden, wenn Sie die Händler derart anprangern?
Skinner: Doch. In der Türkei zum Beispiel. Ich hatte den Angestellten eines Flughafenreisebüros gefragt, wo ich eine Frau kaufen könne. Für 100 Dollar hatte er mich zu einem Mann geführt, der gerade wegen Menschenhandels im Gefängnis gesessen hatte. Als ich ihm gegenüberstand, war mir sofort klar: Er traut mir nicht. Der Gedanke, dass er jeden Moment eine Waffe ziehen und auf mich richten könnte, hat mir einen Schauer über den Rücken gejagt. Aber es ist nichts passiert. Am Ende der Verhandlung zeigte er mir die Marihuanaplantage auf seinem Dach. Ich sagte: Ah, das war mein erster Job. Und meine erfundene kleinkriminelle Vergangenheit hat ihn beruhigt.
WELT ONLINE: Ihr Buch über die Sklaverei klingt an vielen Stellen wie eine Kampfschrift. Haben Sie den Abolitionisten bewusst nachgeeifert?
Skinner: Ich sehe mich absolut in dieser Tradition. Meine Familie ist mit der "Mayflower" nach Amerika gekommen. Es waren Quäker. Die glauben, dass in jedem Menschen ein Funke Gottes lebt. Sie kamen früh zu dem Schluss, dass Sklaverei eine Abscheulichkeit ist. Ich lernte in der Sonntagsschule der Quäker mehr über Frederick Douglass und Harriet Tubman als über Jesus und Moses. Aber erst, wenn man in diesem Bukarester Bordell steht und diese geistig behinderte Frau sieht, merkt man, wie wichtig es ist, dass man vom Kampf gegen die Sklaverei erzählt, damit diese Menschen nicht in Stille weiterleiden müssen.
WELT ONLINE: Die Geschichte Ihrer Heimat ist besonders eng mit der Sklaverei verbunden. Hat sich Amerika mit der Wahl von Barack Obama jetzt von seiner Erbsünde befreit?
Skinner: Ganz sicher nicht. Das war die Wahl eines Mannes, und sie steht für eine riesige Veränderung dessen, was Amerika für möglich hielt, aber unsere Probleme sind deshalb nicht kleiner geworden: die Spätfolgen der Sklaverei genauso wenig wie die Last, die sie in ihrer modernen Form darstellt. Wir haben in den Vereinigten Staaten mit die aggressivsten Gesetze gegen Sklaverei. Und trotzdem sind in der Stunde, die wir jetzt miteinander gesprochen haben, zwei neue Menschen versklavt worden.
WELT ONLINE: Was sollte Obama tun?
Skinner: Darüber könnte ich Stunden sprechen, aber die Kurzfassung lautet: Der Kampf gegen die Sklaverei muss Teil eines Kampfes werden, den Obama bereits versprochen hat, als er sagte: "Ich will unsere gemeinsame Sicherheit stärken, indem ich in unsere gemeinsame Menschlichkeit investiere." Er muss sein Versprechen nur noch halten.
E. Benjamin Skinner, Menschenhandel. Sklaverei im 21.Jahrhundert (19,95 Euro), Lübbe
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