Von Arnd Schweitzer
auf http://www.spiegel.de/gesundheit/diagnose/aerzte-schlechte-medizin-ein-wutbuch-von-gunter-frank-a-842506.html
In seinem Buch "Schlechte Medizin" wettert Hausarzt Gunter Frank gegen Ärzte, Krankenkassen, Politiker. In der modernen Medizin läuft demnach vieles falsch - von Studienmanipulationen bis hin zur aufgezwungenen Gruppenmoral. Das Problem: Der Autor schäumt so sehr, dass seine Botschaften bisweilen untergehen.
Die Unterzeile von Gunter Franks neuestem Werk "Schlechte Medizin" passt gut. "Ein Wutbuch" steht da und macht den Lesern gleich klar, was sie erwartet: Die schlechte Medizin habe sich zu einer "monströsen Apparatur" aufgebläht, mit statistisch wertlosen Studien würde ein "Schwindel in großem Stil" betrieben, das Gesundheitswesen werde von einem "Bullshit-Tsunami" überrollt.
Frank, Allgemeinmediziner mit eigener Praxis in Heidelberg und häufig Gast in Talkshows, legt sich darin mit fast allen an: den Hochschulprofessoren, den Ärzten, den Krankenkassen, den Politikern, den Medien, der Deutschen Gesellschaft für Ernährung, dem Deutschen Krebsforschungszentrum, Greenpeace und Foodwatch.
Ganz besonders sind Frank Ernährungs- und Gesundheitswissenschaftler ein Dorn im Auge. Die freie Wahl jedes einzelnen, auch ungesund zu leben, sei in Gefahr. Müttern, die rauchten, drohe auf der Straße "verbale Lynchjustiz". Dicke grenze man aus bis hin zum Berufsverbot, ganze Gesellschaftsgruppen würden wie im Mittelalter diskriminiert und unterdrückt. Es habe sich ein Netzwerk der Lebensstilmoralisten breit gemacht, die uns ihre Gruppenmoral aufzwingen wollten.
Millionen Gesunde werden zu Kranken
Das klingt arg nach Verschwörungstheorie. Auf vielen Seiten des Buches schafft es Gunter Frank jedoch, nachvollziehbar zu erklären, wie die Medizin aus dem Ruder läuft. Sein Hauptvorwurf: Bei vielen Krankheiten hätten Wissenschaftler Risikofaktoren bestimmt, für die es keine wissenschaftliche Basis gebe. Erhöhte Werte für Blutdruck, Cholesterin oder Übergewicht sollen ungesund sein, jedoch fehlten dafür solide Studien. Immer niedrigere Grenzwerte machten millionenfach Gesunde zu Kranken, die dann auch behandelt werden müssten - mit Medikamenten, die häufig schwere Nebenwirkungen hätten.
Was Gunter Frank in seinem Werk beschreibt, ist durchaus auch Thema in Fachbüchern wie "Overdiagnosed" von Gilbert Welch. Frank hat die Literatur offensichtlich gelesen. Und vermutlich erklärt er sie auch oft seinen Patienten, denn im Buch gelingt es ihm, die schwierigen Sachverhalte einfach und anschaulich zu erläutern - zum Beispiel die Kriterien evidenzbasierter Medizin. Die wendet möglichst das an, was sich in qualitativ hochwertigen Studien, bei einer Art "Studien-TÜV", wie Frank es nennt, als wirksam erwiesen hat und dabei mehr nutzt als schadet.
Dabei macht der Autor auch verständlich, wie das derzeitige Belohnungssystem im Wissenschaftsbetrieb Forscher korrumpiert. Wichtig sei es, möglichst viel und in möglichst hochrangigen Fachzeitschriften zu publizieren. Danach würden Budgets verteilt und Stellen vergeben. Kritische Stimmen, ein Infragestellen, seien nicht mehr gefragt. Sogar die Autoren medizinischer Leitfäden seien häufig nicht unabhängig, wie Frank am Beispiel des Mediziners und SPD-Politikers Karl Lauterbach zeigt.
Harsche Kritik an anderen - fehlende Belege für eigene Argumente
Die Mutter allen Übels ist für Gunter Frank eine Untersuchung aus den fünfziger Jahren: US-Forscher untersuchten in der Kleinstadt Framingham die Bewohner auf Herz-Kreislauf-Krankheiten und beobachteten sie über Jahrzehnte. Statistische Tricks und das Unterschlagen unliebsamer Werte führten laut Frank dazu, dass die Forscher eindeutige Risikofaktoren festlegen konnten - obwohl es die gar nicht gebe. Wissenschaftler arbeiteten mit solchen Täuschungen bis heute. Studienergebnisse, vor allem die unerwünschten, werden nicht publiziert oder nur die positiven Teile davon veröffentlicht.
Das alles schildert Frank plastisch an vielen Beispielen. Doch leider nimmt er selbst es mit dem Studien-TÜV nicht immer so genau. So behauptet er, eine Studie aus dem Jahr 1998 habe gezeigt, bei 50- bis 80-Jährigen habe es gar keinen Vorteil, die Blutdruckwerte unter 160 zu 90 zu senken. Schaut man in der Studie nach, findet sich darin jedoch kein Hinweis auf eine solche Aussage. Dort heißt es lediglich, dass ein weiteres Absenken unter 140 zu 90 keine weiteren gesundheitlichen Vorteile bringt.
Krude Theorien zu Vollkornprodukten und Rohkost
Auffallend ist auch, dass Frank seitenweise lediglich referiert, beispielsweise aus dem pharmakritischen "arznei-telegramm". Krude wird es, wenn er über die Produktion von Biolebensmitteln wegen der zu hohen Verkeimung schimpft, gegen Vollkornprodukte oder Rohkost wettert und behauptet, die heute in der Landwirtschaft eingesetzten Pestizide seien längst nicht so schädlich wie die aus den siebziger Jahren. Schließlich verteidigt er noch die industrielle Tierproduktion.
Gunter Franks Wutwerk polarisiert und fordert Widerspruch. Dabei ist es über weite Strecken ein leidenschaftliches Plädoyer für die evidenzbasierte Medizin. Es ist wünschenswert, dass viele Leser die darin enthaltene berechtigte Kritik trotz der Wutattacken wahrnehmen.